Wie gross ist die Chance, dass man sich vor einem pöbelnden Polizisten in Sicherheit bringen will und dabei als Anhalter von einer hübschen Frau aufgelesen wird, die einen als Killer engagieren möchte? Gleich null, richtig. Aber das ist nicht etwa die halbe Geschichte, sondern gerade mal die Einleitung zu „In letzter Sekunde“, dessen Titel sich übrigens auf das Finale bezieht. Wenn wir schon beim Finale sind: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Profikiller sich in einer Situation, in der offensichtlich ein Szenario eintrifft, für das geplant wurde, völlig entgegen diesem Plan verhält? Klein, richtig. Aber trotzdem nötig, denn sonst wäre der Titel irgendwie sinnlos.
Amanda Greer hat mexikanische Wurzeln und ist mit einem reichen Texaner verheiratet, der sie schlägt. Und den sie eben deshalb umbringen will, sobald er aus dem Gefängnis entlassen wird. Das hätte eigentlich in einem Jahr sein sollen, ist aber dank entsprechenden Umständen schon in zwei Tagen soweit.
Jack Reacher glaubt der Dame zwar, was die Prügeleien angeht, verzichtet aber auf ihr Jobangebot als Killer. Und er tut gut daran, wie es scheint. Denn plötzlich sieht alles ganz anders aus als Amanda Greer es schilderte. Genau umgekehrt: Sie nutzt ihn aus.
Und dann kehrt es sich nochmals. Und irgendwie nochmals. Am Ende fügen sich zwar auf den letzten 50 Seiten die Puzzleteile zusammen, über die die vorherigen 300 Seiten geschrieben wurden. Aber irgendwie nicht so richtig befriedigend. Für den Leser meine ich, fürs Happy End reicht es trotzdem.
Ich mag es nicht so, wenn ich Schlussfolgerungen der Hauptfigur nicht nachvollziehen kann, sei es, weil ich zu dumm bin, weil uns der Autor über Details im Unklaren lässt oder weil sie einfach doof sind. Aber Action ist Action, und über solche Dinge muss man ebenso drüber hinwegsehen wie über Klischees, derer sich Lee Child bedient. Von Texas scheint er jedenfalls nicht viel zu halten, wie er da die Menschen und die Exekutive schildert.
Wie schon in den vorangehenden Reacher-Romanen hat Lee Child den Weg mit Parallelsträngen nicht mehr verlassen, sondern viel mehr noch eher ausgebaut. Das tut der Geschichte gut, weil der Leser irgendwie mehr weiss als die Hauptperson Jack Reacher. Allerdings weiss Child genau, wie man Cliffhanger erzeugt. Nein, nicht weglegen, weiter lesen. Nur noch ein Kapitel. Nur noch eine Seite. Noch eine. Noch eine.
Dass ich „In letzter Sekunde“ wiederum (wie seine Vorgänger) innert weniger Tage gelesen habe und der nächste Reacher-Roman bereits auf dem eBook-Reader auf mich wartet, beweist allerdings: Die Arbeit von Child ist solide und wird den Anforderungen an einen unterhaltsamen Thriller völlig gerecht.
Meine Wertung: